Mehr als Slow Food ist nicht übrig vom Kommunismus – ein Interview mit Carlo Petrini

http://www.welt.de/138742221 Ein Artikel aus DER WELT vom 25.3.2015 von Dirk Schümer

Essen ist Freiheit: Als 1989 die letzte politische Utopie verschwand, riefen Italiener die Ideologie des Slowfood aus. Ein Besuch bei Carlo Petrini, dem Großen Vorsitzenden der globalen Genussbewegung.

Slowfood: Die Weltrevolution der regionalen Küche 

Als 1989 der Kommunismus implodierte, da machten sich die Genossen in aller Welt daran, ihre Zukunft zu organisieren. In Russland oder Rumänien planten die Geheimdienste die Machtübernahme, Stasi-Agenten schulten sich zu Managern um, polnische und ungarische Funktionäre gründeten kleine Unternehmen. Aber nur in einem Land der Welt wurde aus dem Kommunismus eine neue globale Bewegung: in Italien. Hier, wo die rote Ideologie immer schon einen Hang zum Menschlichen und Sanften gehabt hatte, sammelten sich lokale Würdenträger und Idealisten aus dem Partito Comunista und dachten sich etwas Revolutionäres aus. Wenn die Kollektivierung der Produktionsmittel und der Einparteienstaat schon so jämmerlich schiefgegangen waren, gab es einen segensreichen Aspekt, der für die Menschheit – und für die Genossen – einfach bewahrt werden musste: das gute Essen.

Nicht zufällig fällt die Gründung von Slowfood ins Epochenjahr 1989. Regionale Kulturfunktionäre der italienischen Kommunisten hatten es satt, dass mit dem Triumph des atlantischen Kapitalismus auch der amerikanische Massenfraß seinen Einzug hielt. Als auch noch an der Spanischen Treppe in Rom ein McDonald’s aufmachte, formulierten sie das Gegenmanifest einer bodenständigen, fairen und vor allem leckeren Küche. Doch bei Worten blieb es nicht.

Das Netzwerk der alten Freunde hatte Appetit und Elan genug, einen ersten Osterienführer für die reellen und traditionsreichen Familienbetriebe Italiens aufzumachen: Wo die Oma die beste emilianische Pasta nach Hausrezepten rollt, wo die apulischen Schafsinnereien die beste Würze haben, wo der seltene Wildspargel im Friaul noch auf den Tisch kommt und die piemontesische Nussschokolade mit der Hand geschöpft wird, das alles fanden die übers Land verstreuten Genossen heraus und konnten die Hungrigen aller Länder plötzlich mit Adresse, Öffnungszeiten und Preisen nachlesen. Der Übergang zum Aktionismus ließ sich als stilvolle Fresserei organisieren. Das „Slowfood“ (Link: https://www.slowfood.de) -Buch wurde zum Millionenseller – und so etwas Ähnliches wie das Manifest der kulinarischen Partei.

Wollen wir eine Tierart retten, müssen wir sie essen

Heute sitzt Slowfood etwas außerhalb des Gründungsortes Bra, hundert Kilometer südlich von Turin. Im Dörfchen Pollenzo (Link: http://www.agenziadipollenzo.com) , also abseits der hektischen Metropolen und auf kostbarem Grund, auf dem bester Rotwein wächst und unter dem weißer Trüffel sprießt. Der charismatische Gründer von 1989, Carlo Petrini, ist heute Präsident von Slow Food International. Seine Idee hat im letzten Vierteljahrhundert die Mägen und Hirne der Welt verändert, vor allem aber auch seine Heimatregion. Slowfood ist mit gut zweihundert Leuten und einem eigenen Verlag längst einer der größten Arbeitgeber. Das halb verfallene Mustergut Pollenzo im neogotischen Stil wurde zur Zentrale einer vitalen NGO ausgebaut – mit der einzigartigen Università del Gusto unterm Dach.

Dass hier dreihundert Leute aus der ganzen Welt den kultivierten Umgang mit Nahrung studieren und dann die Botschaft in alle Welt tragen, ist freilich nur das Aushängeschild einer Bewegung, die Tausenden Bauern in Afrika beim Kultivieren bedrohter Getreidesorten hilft und aussterbende Schwarzgürtelschweine in der Toskana als Leckerbissen anpreist. „Wollen wir eine Tierart retten, müssen wir sie essen“ – dieses Credo ist so genussfreudig, politisch inkorrekt und genial wie Slowfood überhaupt. Die Idee, den Genuss an der Welt mit ihrer Rettung zu verbinden, war typischerweise weder bei deutschen Grünen noch bei amerikanischen Linken jemals aufgekommen. Dafür gibt es eben Italien.

Für praktische Italiener verspricht der Einsatz für fairen Landbau erst dann Erfolg, wenn die Produkte dieses Landbaus auch besonders schmackhaft sind. Wie lässt sich der Agrokapitalismus besser bekämpfen als mit einem Schiopettino aus dem Friaul im Glas? Für eine Traube, eine Sardine, eine Reissorte, die in den Marketingstrategien des weltweiten Ernährungsbusiness keine Rolle mehr spielt, geht Slowfood auf die Barrikaden. Wie auf der Arche Noah hat die Bewegung bedrohte Musterprodukte als schützenswert ausgerufen – vom Rahmkäse bis zur Felsenziege. Italiens große Essensparty „Salone del Gusto“ in der alten Fiat-Fabrik des Lingotto von Turin bringt seit Jahren Hunderttausende von Leckermäulern mit lokalen Produzenten zusammen. Käse-, Fisch- und Weinmessen der besonderen, weil kleinteiligen Art folgten.

Während Weltverbesserer anderswo über ihren ganzheitlichen Ansatz diskutieren, greift bei Slowfood alles ineinander: das Essen und der Anbau, das Restaurant und der Winzer, der Preis und der Geschmack, der Kopf und der Magen. Die Grundidee ist einfach: Ob marokkanischer Couscous oder tibetanischer Yakkäse, ob Murnauer Alpenrinder oder kolumbianischer Panela-Zucker – überall in der Welt gibt es kulinarische Produkte, die für Tradition, Identität, Genuss und kleinräumige Produktion stehen. Wenn man sie verteidigt, ist das bereits der erste Schritt gegen die Verwüstung der Welt durch Überfischen, Monokulturen und Pestizide.

Was aber anderswo als lustfreier Überlebenskampf angegangen wird, erledigen die Leute von „Slowfood“ mit italienischer Zauberhand als Schleckerseminar. Naturgemäß ist an die Zentrale in Pollenzo ein schlichtes, doch stilvolles Hotel mit exquisiter Küche angeschlossen. Im Klimakeller spekuliert die Banca del Vino vor sich hin – ein millionenschwerer Panzerschrank mit teuren Jahrgängen, in welche der trinkfeste Weltverbesserer sein Erspartes mit einem Augenzwinkern gegenüber den Hedgefonds und den Investmentbankern nachhaltig investieren kann.

Die soliden Alkoholgrade der Weinbank in Pollenzo sind die lokale Antwort auf die weltweite Volatilität der Finanzindustrie. Was ist auch verwerflich daran, wenn die Absolventen der Geschmacksuniversität nebenan von europäischen Spitzenköchen die perfekte kulinarische Nutzung eines Kalbskopfes ohne Abfälle beigebracht bekommen? Wenn sie Kaffeearomen auswendig lernen, wie man sie eben in keinem deutschen Muckefuck, sondern nur in einem italienischen Espresso erahnen kann? Und um die „50 shades of olive oil“ zu speichern, muss man hier wahrlich kein Masochist sein.

Ob Slowfood ein landesweites Programm italienischer Schulkinder für die einfache Pastaküche und gesunde Salatkultur initiiert, ob Mitglieder und Fans zu Koch- und Probierseminaren in die Zentrale pilgern, ob Praktikanten aus reichen Ländern die Produktionsbedingungen auf lateinamerikanischen Bauernhöfen kennenlernen oder afrikanische Firmengründer das Geschäft bei venetischen Winzern abschauen – alles beruht bei solchen Initiativen auf Vernetzung und Respekt vor den Produkten – sowie der Überzeugung, dass ohne guten Geschmack die Sache der Lebensmittel-Revolution ohnehin verloren ist.

Carlo Petrini ist in diesen 25 Jahren des Erfolgs zu alles anderem geworden als zum nongouvernementalen Guru, der er eigentlich sein müsste. Der Mittsechziger wurde von den Vereinten Nationen ausgezeichnet und immer wieder zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten Italiens, wenn nicht gar der ganzen Welt gekürt. Letzten September hat er die Landwirtschaftsminister der EU in Pollenzo bewirtend indoktriniert. Und seit sein kulinarisches Entwicklungsprojekt „Terra Madre“ in 175 Ländern erfolgreich ist, geben sich Delegationen aus aller Welt in Pollenzo die Klinke in die Hand. Wer als europäischer Sternekoch etwas auf sich hält, muss regionale Slowfood-Produkte auf die Speisekarte bringen. Sein persönlich schönstes Essenerlebnis der letzten Jahre aber, erzählt Petrini beiläufig, sei die Fleischbrühe, die er mit anderen Kursteilnehmern in einer brasilianischen Favela gekocht hat – wegen des Geschmacks, nicht wegen der Botschaft.

Als Italiener, dessen große Karriere ziemlich exakt mit der Ära des Berlusconismus zusammenfällt, will Petrini über Politiker und Parteien nicht mehr reden. Vom Staat, von einem einzelnen Staatsmann gar, erhofft sich in Pollenzo niemand mehr etwas. Die „selbstversorgende Anarchie“, die dem Genussmenschen Petrini eher vorschwebt, hat er gerade mit dem großen Zygmunt Bauman in England diskutiert. Man muss es sich so vorstellen: Der Essenpapst nimmt im Wohnzimmer des Soziologenpapstes bei einem Gläschen Gin Nachhilfe in Schwarmintelligenz. Seither schwärmt Petrini von den Basiskräften des Internets.

Für China ist Slowfood die nächste Kulturrevolution

Zu Jahresbeginn hat er das Projekt „Slow Food Planet“ ausgetüftelt, und wie 1989 macht es seine Kunden zu Trüffelschweinen des guten, aber fairen Lebens: Wo in einer Stadt oder Region werden bodenständige Produkte produziert und serviert? Wo gibt es nicht den billigsten, aber den besten Frühstückskaffee in London oder Boston? Wo finde ich eine kulinarische Buchhandlung? Wie begegnen sich „Slowfood“-Anhänger am Strand von Rimini oder auf der Frankfurter Buchmesse? Dazu Buch- und Reisetipps und Rezepte von Gleichgesinnten. Samt Karten, Stadtplänen, Preisen kann man das herunterladen, mal frei und gesponsort, mal gegen Bezahlung oder gegen Mitgliedschaft. Kein Wunder, dass der katholische Papst sich neulich beim kulinarischen meldete. Der rote Atheist Carlo Petrini schwärmt von einem langen, harmonischen Telefonat mit Jorge Bergoglio, dem Sohn piemontesischer Bauern, über Nachhaltigkeit, fairen Handel und bodenständiges Essen natürlich.

Carlo Petrini, den alle hier in Pollenzo nur mit seinem Dialektnamen Carlin rufen und der gemeinsam mit seiner Schwester im kleinen Elternhaus in Bra wohnt, ist ein Mensch, der so gar nicht zum Mahner und Ideologen ökologischer Provenienz passen will. Und doch hat dieser ständig lachende Graubart wohl mehr für die Umwelt getan als irgendein anderer grüner Aktionist. Dass er zum Gespräch in der hauseigenen Bar zu spät kommt, entschuldigt er gar nicht erst, sondern bringt seinen Hoffnungsträger gleich mit. Er hat den neuen Slowfood-Chef für China dabei – der natürlich fließend italienisch spricht und isst.

Derzeit gibt es immerhin bereits zweitausend Gusto-Freunde im Reich der Mitte. Nach der sprichwörtlichen Raffinesse der chinesischen Küche und dem Ehrgeiz von Carlo Petrini könnten das viele Hunderttausend kulinarische Basisdemokraten werden. „Vor zwanzig Jahren“, sinniert Petrini, „wollte in Peking niemand etwas von uns wissen. Damals ging es darum, Hungersnöte zu vermeiden und das Land zu entwickeln. Jetzt zeigen sich die Folgen der Agroindustrie, Wüsten und Vergiftungen – also werden wir jetzt in China richtig starten.“ Könnte also gut sein, dass in Fernost Glutamat und industrielle Frühlingsrollen aus der Mode kommen und das Jahr des Symboltiers von Slowfood, die Schnecke, einen festen Platz im Kalender kriegt.

Mit der kulinarischen Verfeinerung des menschenreichsten Landes der Welt würde sich der Kreis seit 1989 endgültig schließen. Aus der gescheiterten Heilslehre des Kommunismus ist die fleischgewordene Verheißung eines Lebens mit guten Lebensmitteln geworden – vielleicht der echte Sprung nach vorn. Über solche grandiosen Perspektiven lacht der Große Vorsitzende Carlo Petrini hinweg, als wäre er ein frisch bekehrter Jungfunktionär. Dabei geht es ihm doch nur ums Ganze: ums Überleben des Geschmacks, ohne den die Welt nicht lebenswert wäre. Oder wie er seine Botschaft mit dem historischem Pathos der alten Schule zusammenfasst: „Essen ist Freiheit.“